Aufsätze und Materialien zu Medien & Gesellschaft

- zum internen Gebrauch in meinen Lehrveranstaltungen // www.medien-gesellschaft.de

zusammengestellt
von
Klaus Wolschner


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VR Titel

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die 
menschliche 
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges

ISBN 978-3-7375-8922-2
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2 AS Cover klein

Wie wir wahrnehmen, 
was wir sehen

ISBN 978-3-7418-5475-0
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Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft 
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

ISBN 978-3-746756-36-3
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Zusammenfassende Informationen
              mit Textblöcken aus FRANK BÖSCH, Mediengeschichte S. 35-57

Gutenberg und der typografische Druck

    Im Unterschied zur evolutionären Entwicklung in Ostasien wurde Gutenbergs Erfindung sofort als große Veränderung verstanden. Von 1455 ein Lob des späteren Papstes Pius II. überliefert, der die gute Lesbarkeit der Gutenberg-Bibel pries. Die Drucktechnik wurde als Gottesgeschenk bezeichnet. Bereits hundert Jahre später gab es die ersten Gutenberg-Feiern.   
                                  (http://www.mainz.de/gutenberg/press021.htm

    Natürlich hatte die schnelle Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die die Drucktechnik erfuhren, Gründe in der Vorgeschichte.
             (http://www.medien-gesellschaft.de/html/vor_gutenberg.html)

„Die gleitenden Übergänge zeigen sich ebenso in den Kommunikations- und Textformen bis Anfang des 16. Jahrhunderts: Inhalt, Form, Schrift, Papier, Rezeption und Preise änderten sich vor und nach Gutenberg nur sehr langsam (Eisermann in Spieß 2003: 307—309; Neddermeyer 1998: 24f.). Selbst am Absatzmarkt lässt sich diese Kontinuität ausmachen: Der Druck mit beweglichen Lettern befriedigte die Nachfrage des bisherigen Marktes, jedoch kam es zu einer gewissen Überproduktion, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Preise sinken ließ und damit das Medium wiederum für breitere Schichten erschwinglich machte.”

„Bereits in den Jahrzehnten um 1400 verbreiteten sich die Papiermacherei und -mühlen, die Druckgraphik und Blockbücher sowie dann die auf Vorrat produzierenden Schreibstuben und schließlich die Post, die insbesondere durch Franz von Taxis seit 1490 ausgebaut wurde.”

Bilddrucke

„Bereits Anfang des 15. Jahrhunderts lassen sich Holzschnitte in Deutschland ausmachen. Insofern setzte im 15. Jahrhundert nicht nur das typographische Zeitalter ein, sondern zugleich ein Visualisierungsschub. Dieser reichte von Heiligenbildern, künstlerischen Bildern und Emblemen über Stadtansichten bis hin zu Landkarten, die im 16. Jahrhundert kompiliert in Ausgaben erschienen und ein bislang oft noch geheimes räumliches Wissen öffentlich machten (Würgler 2009: 7 f., 118f.). Pro Holzstock konnten bis zu 10.000 Abzüge erstellt werden. Die entsprechende Nachfrage nach den vornehmlich religiösen Gebrauchsgraphiken ging mit der spätmittelalterlichen Laienfrömmigkeit einher, die für eine individuelle Religiosität steht.”

„Das Kernelement seiner Erfindung ist weniger die von den rheinischen Winzern abgeschaute Presstechnik als vielmehr sein Handgießgerät, das eine identische, präzise und unbegrenzte Vervielfältigung der Lettern ermöglichte (Neddermeyer 1998: 8; Giesecke 1991: 71,106).”

Motive Gutenbergs

Gutenberg hat „das bei Handschriften übliche ästhetische Ziel verfolgt, die Schrift gleichmäßig harmonisch zu gestalten (Giesecke 1991: 138-143). Vor allem die prachtvolle Ausgestaltung seiner Bibel stützt diese These. Gerade weil Gutenberg, so Giesecke, nicht allein schnelle Vervielfältigungen anstrebte, sei der Triumph seiner Erfindung gelungen, da sie die ästhetische Überlegenheit seiner Maschinenproduktion belegte. Allerdings agierte Gutenberg zugleich als Geschäftsmann, der nicht nur aufgrund der hohen Investitionskosten ökonomischen Gewinn anstrebte. Deshalb druckte Gutenberg schnell Gebrauchstexte, die eine große Nachfrage und Gewinn versprachen, wie Elementargrammatiken, Ablassbriefe oder Einblattdrucke. Und selbst die prachtvolle Bibel ließ hohe Gewinnspannen erwarten (Kapr 1988: 180, 193; Stöber 2000: 25—27). Uwe Neddermeyer argumentierte sogar, dass die Erfindung gerade deshalb im deutschen Raum aufkam, weil hier die Nachfrage nach schmuckloser Gebrauchsliteratur größer war als etwa in Italien, wo es einen größeren Markt für prunkvolle Bücher gab (Neddermeyer 1998: 379 f.). Ästhetische und ökonomische Ziele ergänzten sich somit.”

 

Europaweite  Schwerpunkte

„Von Mainz aus verbreitete sich das Druckverfahren in den folgenden Jahrzehnten in Europa. Bereits 1480 wurde in 90 Städten gedruckt, um 1500 schon in 252 Druckorten. Anfangs lagen ein Drittel und später ein Fünftel davon im Alten Reich. Dabei fallen zunächst die starken regionalen Differenzen beim Transfer der neuen Medientechnik auf. Die reichen Städte Norditaliens bildeten nun den wichtigsten Schwerpunkt. Da hier bereits privater Buchbesitz üblicher wurde, war die Nachfrage nach dem Druck besonders groß (Fremmer 2001: 288). Generell waren die norditalienischen Städte attraktive Druckorte - dank ihrer politischen Struktur, ihres ökonomischen Reichtums und ihres hohen Bildungsniveaus aufgrund der dort etablierten Universitäten. Obgleich Paris und Lyon aus ähnlichen Gründen Drucker anzogen, expandierte die Drucktechnik im restlichen Frankreich auch wegen der Folgen des Hundertjährigen Krieges langsamer (Chartier/Martin 1989). Und in England eröffnete erst 1476 der Tuchkaufmann William Caxton die erste Druckerei, nachdem er bei einer Geschäftsreise in Köln die Buchdruckerkunst kennen gelernt hatte. Dennoch wurden in England bis 1560 weniger Bücher als in Italien, Frankreich und im Reich gedruckt. Der englische Buchmarkt blieb bis ins 17. Jahrhundert „provinziell“ (Burke 2001:193), was an der wirtschaftlichen und politischen Lage während und nach den „Rosenkriegen“ um die englische Thronfolge lag. Zudem war in England bereits zuvor die Zahl der produzierten Manuskripte vergleichsweise gering, sodass der Druck im späten 15. Jahrhundert an keinen ähnlich ausgebauten Buchmarkt anknüpfen konnte. Dies belegt erneut, wie stark der Druck an etablierte kulturelle Konstellationen anschloss.”

Osteuropa

„Wie sehr die Ausbreitung des Drucks kulturell geprägt war, zeigt ein Blick nach Osteuropa. Im orthodoxen Osten konnte er kaum Fuß fassen, sei es aufgrund der geringen Alphabetisierung, sei es wegen Bedenken der weltlichen und kirchlichen Führung. In Russland ermöglichten im Grunde erst die Reformen von Peter dem Großen Anfang des 18. Jahrhunderts seine Verbreitung. Erst 1711 wurde etwa in Sankt Petersburg eine Druckerei eröffnet, da die in Moskau überlastet war, aber dennoch dominierte auf den Straßen weiter der Handel mit handschriftlichen Texten. Gefördert wurde das Druckwesen nun durch die Kirche, da die Patriarchatsdruckerei im 17. Jahrhundert massenweise Gebetsbücher und Fibeln erstellte (Plambeck 1982: 53). Eine gewisse Expansion des Druckwesens erfolgte erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts unter Katharina der Großen.”

Osmanisches Reich

“Noch rigider wurde die neue Medientechnik im Osmanischen Raum unterdrückt. Zwar trifft die oft formulierte Annahme nicht zu, die neuen Druckmedien hätten hier keinen Einzug gehalten. So ließ der Sultan Murat III. 1590 den Verkauf nicht-religiöser Bücher in arabischer Schrift zu, die aus Italien kamen. Juden druckten schon Ende des 15. Jahrhunderts in Konstantinopel, griechische Beichtbücher kursierten und 1627 entstand in Konstantinopel kurzzeitig die erste griechische Druckerei im Osmanischen Reich (Tsakiris 2009: 47). Dennoch konnte sich die Drucktechnik bis ins 18. Jahrhundert nur punktuell entfalten. Insbesondere die napoleonischen Feldzüge brachten Druckpressen in den arabischen Raum, was auch in der arabischen Geschichtsschreibung als ein historischer Wendepunkt gesehen wurde (vgl. Roper in Baron u. a. 2007: 250). Im osmanisch besetzten Südosteuropa konnten sich gedruckte Texte folglich ebenfalls kaum entwickeln (Komorovä 2007:186). Die  „Medienrevolution“ nach Gutenberg war insofern nicht einmal eine europäische, sondern lange Zeit nur eine westeuropäische Veränderung, die sich selbst dort nur in bestimmten Regionen intensiv entwickelte.”

Transfer der Technik

„Der europäische Transfer der neuen Medienherstellung vollzog sich häufig durch die Auswanderung deutscher Drucker. Sie gingen hauptsächlich nach Italien, Flandern, Frankreich oder Spanien, da dort höhere Profite zu erwarten waren. Die in Italien von Deutschen produzierten Drucke wurden dann mitunter wieder nach Deutschland verkauft. Denn mit der westeuropäisehen Ausbreitung des Drucks entstanden rasch Exportzentren, die andere europäische Länder mit Literatur versorgten und entsprechend sogar gezielt in den jeweiligen Volkssprachen druckten. Venedig bildete im 15. und 16. Jahrhundert weltweit den größten Druckstandort (Burke 2001:190). Nördlich der Alpen spielte Köln schnell eine große Rolle, kurze Zeit später auch Basel und insbesondere Antwerpen, wobei der Buchhandel bis nach Portugal und England reichte (Neddermeyer 1998: 395—399). Das zentraleuropäische Gebiet von Flandern über Süddeutschland bis zur Lombardei bildete damit das Zentrum des neuen Mediums. Seltener verbreitete sich die neue Drucktechnik dagegen durch gedruckte Anleitungen, die erst im 17. Jahrhundert häufiger auftraten (so Giesecke 1991: 71). Auch dies unterstreicht die starke Rolle von ökonomischen Interessen, die in diesem Fall die räumliche Ausbreitung der Innovation eher begrenzten.”

Lesergruppen

„In der zeitgenössischen Wahrnehmung fand sich schnell die Zuschreibung, das neue Medium würde sich an jedermann richten (Scholz in Kümmel 2004: 18). Die Buchdrucker selbst forcierten, auch aus kommerziellem Interesse, diese Öffnung des Leserkreises. Dies zeigen etwa die Vorworte Lyoner Drucker, die sich im 16. Jahrhundert mit einem erzieherischen Anspruch auch an die wachsende Gruppe von gebildeten wohlhabenden Bürgern richteten (Vogel 1999: 272 f.). Die Zahl der regelmäßig Lesenden wird für die Zeit um 1500 auf nur zwei Prozent der Bevölkerung des Reiches geschätzt, also rund 300.000 Menschen, während deutlich mehr zumindest Buchstaben entziffern konnten. Um 1600 verdoppelte sich der Wert (Würgler 2009: 94). Erschwert wird jede Schätzung durch regionale, konfessionelle und geschlechtsspezifische Unterschiede sowie das Stadt-Land-Gefälle. Die Alphabetisierung war bei Männern in Städten und bei reformierten Protestanten besonders hoch. In den zentraleuropäischen Städten waren vermutlich bis zu zehn Prozent der Bewohner lesefähig, und damit - neben den Geistlichen - seit 1450 verstärkt das Stadtbürgertum. Die höchste Alphabetisierungsrate bestand vermutlich in den oberitalienischen Städten, wo etwa ein Drittel der Jungen die Schule besuchte und so in einer Stadt wie Venedig zehn bis 20 Prozent der Einwohner lesen konnten (Fremmer 2001: 67). Dennoch erreichte der Druck deutlich mehr Menschen. Denn die Texte wurden in der Regel laut auf Plätzen, in Kirchen oder in Wirtshäusern vorgelesen (Körber 1998: 302 f.). Besonders die Flugpublizistik erreichte dadurch zahllose nicht alphabetisierte Menschen.”

Inhalte

„Die Nutzung der neuen Druckmedien hing zudem von ihrem Inhalt, ihrer Sprache, ihrer Form und ihrem Preis ab. Bei den Inhalten der Bücher fällt in den ersten Jahrzehnten des Drucks erneut die Kontinuität zum Mittelalter auf. So nahm zunächst der Druck von mittelalterlichen „Standardwerken“ zu. Erst um 1520 änderte sich dies im Reich deutlicher. Nun traten verstärkt volkssprachliche Schriften der Reformatoren auf, aber auch okkulte Werke fanden einen größeren Markt. Generell hatten gerade im 16. Jahrhundert die meisten Bücher einen religiösen Inhalt. Hohe Verkaufszahlen erreichten besonders liturgische Bücher und Schulbücher (wie lateinische Grammatiken), aber auch antike Autoren machten zehn bis 15 Prozent des Marktes aus (Neddermeyer 1998: 426-440).

Sprachlich brachte ebenfalls erst das 16. Jahrhundert eine Öffnung für breitere Leserschichten. Von den rund 30.000 Druckwerken bis 1500 waren noch rund 70 bis 80 Prozent in der Sprache der Kirche und der Gelehrten verfasst - auf Latein (Fussel 1999: 76). Um 1480 nahmen nationalsprachliche Druckwerke sogar ab, da lateinische Werke den europaweiten Absatz erleichterten (Neddermeyer 1998: 544). Bereits Ende des 15. Jahrhunderts führten dann jedoch ökonomische Erwägungen zu einer verstärkten Publikation nationalsprachlicher Werke (Barbier 2007: 40). Ab 1520 stieg der Anteil nationalsprachlicher Drucke in Italien und dem Reich auf die Hälfte der Titel an, in Frankreich ab 1560. Besonders Unterhaltungsliteratur, Prosaromane des Spätmittelalters, populäre Historienstoffe, Ratgeberliteratur und Fabeln erschienen  in den jeweiligen Volkssprachen, wenngleich bei den Büchern insgesamt bis Ende des 17. Jahrhunderts Latein überwog. Beachtliche Auflagen erreichten auch Bücher zu den sieben freien Künsten in deutscher Sprache, die sich an städtische gebildete Menschen richteten (Fussel 1999: 76-78, 90). Dies zeigt erneut, wie die neue Medientechnologie erst langsam ihre eigenen Möglichkeiten und Zielgruppen gegenüber den mittelalterlichen Handschriften ausbildete.”

Flugblätter

„Der Buchmarkt war freilich nur ein Ergebnis der neuen Medientechnologie, und von der Auflagenzahl her nicht einmal das bedeutendste. Starke Verbreitung fanden vielmehr Flugblätter, Flugschriften, sogenannte „Neue Zeitungen“ oder Kalender, die Ratschläge für das Alltagsleben gaben. (...)  Auch wenn sich Flugblätter und Flugschriften nicht trennscharf  unterscheiden lassen, haben sich anhand ihrer Formen und Inhalte Typologisierungen eingebürgert, anhand derer man zugleich ihre gesellschaftliche Bedeutung zeigen kann.

Das Flugblatt spielte in der gesamten Frühen Neuzeit eine Schlüsselrolle. Der Begriff, der auf die schnelle Verbreitung anspielt,  ist aber erst ab 1787 belegt. Genauer erscheint die Bezeichnung „Einblattdruck“. Zumeist vereinten diese Drucke auf einer Seite Text und Bild mit amtlichen, politischen, religiösen, naturkundlichen oder auch literarischen Inhalten (Schilling 1990; Wilke 2008: 20). Dabei wiesen sie im Unterschied zur mehrseitigen Flugschrift meist keine agitatorische Wertung auf, sondern eher einen informativen, wenn auch moralisierenden Charakter. Die Bedeutung des Flugblattes lässt sich erstens ökonomisch ausmachen. Dank der geringen Herstellungskosten und hohen Auflage war es ein einträgliches Medium für Drucker, das schnelle Einnahmen versprach. Bereits Gutenberg produzierte deshalb Flugblätter. Ihr Stückpreis entsprach immerhin mindestens dem Stundenlohn eines Handwerkers, wobei die Durchschnittsauflage rund i1.000 bis 1.500 Exemplare erreichen konnte. Die mitunter reißerischen Überschriften unterstrichen die Verkaufsorientierung.

Die Flugblätter waren zweitens bereits im 15. Jahrhundert Teil der politischen Kommunikation. Dabei wurden sie oft gut sichtbar an öffentlichen Orten plakatiert, insbesondere bei Konflikten wie Fehden, juristischen Fragen oder Kriegen. Typographie und Layout knüpften zunächst oft an den mittelalterlichen Schreibusus an (Eisermann in Spieß 2003: 290-294). Im Unterschied zu heute waren die frei verkauften Flugblätter jedoch nicht mit politischem Protest verbunden. Wenn sie politische Kritik äußerten, stand diese zumeist im Einklang mit der Obrigkeit oder die Kritik wurde durch Erbauliches überlagert (so Schilling 1990: 199). Allerdings lassen sich frühzeitig Einblattdrucke ausmachen, die die Obrigkeit zu politischen Handlungen ermunterten. So berichtete ein Flugblatt von Sebastian Brant über den Meteoritenfall 1492 bei Ensisheim und deutete ihn als böses Omen für die Franzosen und Burgunder, weshalb er König Maximilian aufforderte, gegen diese vorzugehen (Fussel 1999: 98 f.). Damit stand das Flugblatt für eine direkte Kommunikation mit den Herrschern. Obgleich die Flugblätter von politischer Kritik absahen, wird angenommen, dass sie das politische Räsonieren und einen herrschaftlichen Auraverlust förderten (Schilling 1990: 200).

Drittens war das Flugblatt ein Informationsmedium, das häufig und umfassend über Ereignisse berichtete und so Vorgänge erst zu Ereignissen machte. Deshalb kursierte bereits 1502 die Bezeichnung „Neue Zeitung“, die auf aktuelle Neuigkeiten verweist (Lang in Blühm/Gebhardt 1987: 57-60). Oft betont wurde dabei ihre „Sensationsorientierung“. Während spektakuläre Bilder mit Gewaltdarstellungen oder „Wundern“ einen Kaufanreiz bilden sollten, zeichneten sich die Texte häufig durch emotionalisierende Details aus (Schilling 1990: 76-90). Neuere Untersuchungen relativieren dies und betonen den oft politisch-militärischen Inhalt (Pfarr 1994: 124). Die Nachrichtenströme reichten bis zum Osmanischen Reich oder Amerika und wurden mit vielfältigen Beglaubigungsstrategien versehen. Hinterfragt wurden sie im 16. Jahrhundert noch selten, im 17. Jahrhundert hingegen schon häufiger (so Schilling 1999: 140).

Viertens waren Einblattdrucke ein Mittel der Sozialdisziplinierung. So stand bei der Darstellung von Verbrechen zugleich die Bestrafung der Täter im Vordergrund. Oft religiös fundierte Moralpassagen am Ende dienten der Exklusion, der (Wieder-) Herstellung der Ordnung und der Bewältigung von Krisen. Ihre Berichte verbreiteten so standardisierte Deutungsangebote - etwa darüber, wie eine „Missgeburt“ oder ein Komet zu erklären seien (Mauelshagen in Harms/Schilling 1998: 104). Auch das Flugblatt war damit ein Medium, das der Beeinflussung diente.”

Beispiel eines Flugblattes von 1621

Flugschriften und Konflikte

„Trotz fließender Übergänge lässt sich das Flugblatt von der Flugschrift abgrenzen. Die Flugschrift hatte in der Regel ein kleineres Format, umfasste mehrere Seiten, war textlastiger und deutlich stärker auf die Überzeugung des Lesers ausgerichtet, mitunter in polemischem Ton. Ihre Autoren agierten oft anonym und äußerten sich in ihr mit vielfältigen Textsorten etwa zu Fragen der Religion, Politik oder des Rechts. Einige Historiker verzichten auf eine derartig funktionale Zuschreibung und bezeichnen als Flugschriften schlichtweg mehrseitige nicht-periodische selbstständige Schriften (Repgen 1997: 50). Schließlich zeigten selbst umfangreiche statistische Auswertungen von 3.100 Flugschriften der Reformationszeit, dass diese überwiegend informierend waren und seltener „kämpferisch-polemisch“ (so Köhler 1986: 261—264).”

„Aus internationaler Perspektive fällt auf, dass Flugschriften besonders bei gesellschaftlichen Konflikten expandierten. In Deutschland blühten sie bereits während der Reformation 1517 auf. An die Stelle von lateinischen Streitschriften traten zunehmend deutsche Flugschriften. In den westlichen Nachbarländern kamen sie verstärkt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf. So stieg ihre Zahl in den Niederlanden in den Jahrzehnten ab 1565 und dann ab 1607 deutlich an, was mit der beginnenden Revolte gegen Spanien, der Republikgründung und dem Beginn des sogenannten 80-jährigen Krieges einherging. Auch danach blieben die Flugblätter in den Niederlanden wichtiger Bestandteil einer öffentlichen politischen Diskussionskultur, zumal hier die Zensur gering war (Harline 1987: 227 f). Die Pamphletkultur im 17. und 18. Jahrhundert war gerade in England und den Niederlanden nicht nur Ausdruck von Krisen, sondern auch einer sich formierenden Öffentlichkeit. Sie verstetigte dabei das Prinzip der Interessenkonkurrenz (Mörke in North 1995:18, 31).

Auch in Frankreich gewannen die Flugschriften mit den Religionskämpfen in den I560-er Jahren an Bedeutung. Insbesondere die Kampagne gegen Minister Concini (1614-1618) gilt als eine Blütezeit des Mediums (Sawyer 1990). Neben der Kritik an der Krone wurden sie durch Kardinal Richelieu zur gezielten Verteidigung von Ludwig XIII. eingesetzt (Klaits 1976: 7f). In England wurde zwar ebenfalls seit 1550 bei den religiösen Auseinandersetzungen stärker mit Pamphleten agiert, aber die Drucke hatten noch keine signifikante Bedeutung für das politische Leben (Raymond 2003: 15). Seit den 1580-er Jahren verbreiteten sie sich zwar zusehends, doch erst im 17. Jahrhundert, insbesondere im Zuge des Bürgerkriegs der 164O-er Jahre, erhielten sie ihren zentralen Stellenwert. Sie etablierten kritische öffentliche Debatten über politische Fragen und wurden dabei zum Modell für die öffentliche Rede (so Raymond 2003: 26). Vor allem zwei Faktoren sprachen dafür, in Auseinandersetzungen dieses Medium zu verwenden: Einerseits war es sicherer, seine Meinung zu drucken, als sie persönlich vorzutragen; und andererseits setzten die Flugschriften Herrscher stärker unter Druck, da sie suggerierten, sich an das einfache Volk zu richten, und so mögliche Rebellionen implizieren konnten.

Propaganda der Herrscher

Wie Craig E. Harline für die Niederlande zeigte, reagierten die Herrscher deshalb häufiger mit der öffentlichen Legitimation ihres Handelns (Harline 1987: 229 f.). Auch für das Herzogtum Preußen lässt sich belegen, dass die Herrscher ebenfalls über Flugschriften ihr Verhalten öffentlich rechtfertigten. So verteidigte Herzog Albrecht 1526 seinen Übertritt zu Luthers Lehre in einer Flugschrift, und die Stadt Danzig 1577, dass diese sich Polen nicht unterwarf (Körber 1998: 159). Damit traten politische Entscheidungen zumindest ansatzweise aus der Arkansphäre. Zugleich bedienten sich die Machthaber selbst der neuen Medien. Folgt man Falk Eisermann, setzte im Reich zunächst die mittlere und obere politische Ebene Drucke ein (Legaten, Stadtrate, Kanzleiangehörige), dann ab etwa 1480 der Hochadel (Eisermann in Spieß 2003: 307). Kaiser Maximilian I. war der erste Herrscher, der Gutenbergs Erfindung systematisch nutzte. So ließ er zu wichtigen Ereignissen Drucke verbreiten, um die Stimmung zu beeinflussen: zu seiner Königswahl 1486, seiner Gefangenschaft in Flandern oder etwa den 1495 in Worms beschlossenen Reformgesetzen (Eisermann 2002). Ebenso ließ er gedruckte Reichstagseinladungen mit Kriegsberichten verbreiten sowie Aufrufe zum Krieg gegen die Türken. Zudem setzte er bei Kämpfen in Venedig italienischsprachige Flugblätter zur Propaganda ein, die mit Ballons hinter der Front abgeworfen wurden. Und schließlich versuchte er mit Drucken seinen Nachruhm zu sichern (Fussel 1999: 102-104).

Zensur

Die politische Nutzung der Medien ging in allen europäischen Ländern mit einer Zensur einher. Im Anschluss an frühere kirchliche Kontrollmechanismen entstanden bereits Ende des 15. Jahrhunderts weltliche und geistliche Zensurvorgaben. Seit den 1520-er Jahren, als die gedruckten Medien verstärkt kritisch wurden, kam es im Reich zu restriktiven Gesetzen wie der Vorzensur (1529) und der Impressumspflicht (1530) (Eisenhardt 1970: 29 f.; Hemels in Fischer 1982: 32). Hinzu kamen Beschränkungen der Druckorte, etwa auf Residenz-, Reichs- und Universitätsstädte im Reich oder in England auf London und die beiden Universitätsstädte Oxford und Cambridge (Briggs/Burke 2002: 50). Bei den Zensurordnungen überwogen zunächst religiöse und konfessionelle Gesichtspunkte gegenüber den politischen. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts änderte sich das (Eisenhardt 1970: 153 f.). Moralisch-sittliche Verstöße wurden dagegen eher im Verbund mit anderen Vergehen geahndet (Schilling 1990: 201). Neben der Zensur durch die Territorien, unter Oberaufsicht des Kaisers, bestand die kirchliche Zensur fort, die bei den Protestanten ebenfalls territorialstaatlich erfolgte.

Die Zensuredikte und ihre Begründungen sind hervorragende Quellen, um die starke Wirkung auszumachen, die die Zeitgenossen den neuen Druckmedien zuschrieben. Bei der praktischen Umsetzung der Zensur hat die Forschung lange das politische Kontrollregime des Vormärz auf die Frühe Neuzeit zurückprojiziert (vgl. Mix in Haefs/Mix 2006: 12). In jüngerer Zeit werden hingegen, angespornt durch Arbeiten zur „Untergrundliteratur“ in Frankreich vor 1789, die Grenzen der Zensur im 16. und 17. Jahrhundert betont. Umgangen wurde sie durch den Verzicht auf das Impressum, durch die Angabe falscher Verlagsorte und Namen, das Einschmuggeln von Büchern aus dem Ausland oder durch lokale Aushandlungsprozesse. Nicht nur die Zensurregeln waren regional unterschiedlich, sondern auch deren Spielräume. Verschiedene Landesherren setzten Beschlüsse des Kaisers nicht um. Zahlreiche Obrigkeiten beauftragten zudem keine eigene Kontrollkommission mit der Zensur, sondern lediglich Prediger und Professoren, die kaum alle Drucke bewältigen konnten. Die Strafen waren sehr unterschiedlich. So ist für das Herzogtum Preußen eine Todesstrafe für eine Schmähschrift belegt, die wohl aus außenpolitischen Rücksichten gegenüber dem verspotteten Schottland ausgesprochen wurde, ebenso längere Haftstrafen. In anderen vergleichbaren Fällen blieben die Bestrafungen dort sehr milde oder es wurde „nur“ ein Landesverweis ausgesprochen (Körber 1998: 271). Deutlich strikter war man in Frankreich. Generell konnte die Mediendynamik aber durchaus politische Kontrollansprüche unterlaufen.”

Wandel von Wissensordnungen

„Zweifelsohne veränderte der Druck die Form der Wissensvermittlung und damit auch die Text- und Bildinhalte. So lösten die Einblattdrucke die Verbreitung von Neuigkeiten stärker von der Kirche ab (Eisenstein 2005: 104). Ebenso erleichterte der Druck die Abkehr von kanonischen Texten, da nun zunehmend ökonomische Gesichtspunkte die Inhalte prägten. Auch Erinnerungstechniken wandelten sich durch die neuartige Speicherung von Wissen, weshalb der Druck als „Unsterblichkeitsmaschine“ bezeichnet wurde (McLuhan 1968: 275). Die Fixierung durch Druck, die Speicherung in Bibliotheken und die Katalogisierung und Erschließung durch Bibliographien veränderten dabei die Selektionsmechanismen der Erinnerungskultur. Zugleich transformierte der Druck die mit der schriftlichen Kommunikation verbundenen Orte. Wie Frieder Schanze argumentierte, seien aus Skriptorien in der Neuzeit Büros geworden, Bibliotheken hätten sich zu Orten individuell arbeitender Gelehrter verwandelt, und das Theater habe aus der Konkurrenzsituation heraus die Körperlichkeit neu in den Vordergrund gestellt (Schanze 2001: 233-239). In den Schulen veränderten bereits im 16. Jahrhundert gedruckte Schulbücher Unterrichtsabläufe, und auch die Kirche wandelte durch die schnelle Nutzung des Drucks ihre Kommunikation, was Michael Giesecke als „Rationalisierung der Bürokommunikation“ deutete  (Giesecke 1991: 230). Ebenso hätten sich kirchliche Rituale vereinheitlicht.”

Auflagenexplosion

„Die Buchproduktion stieg 1517 an und erreichte ebenso wie die Flugschriften besonders um 1523 eine immense Verbreitung. Nach Berechnungen von Hans-Joachim Köhler entstanden allein zwischen 1520 und 1526 11.000 Drucke mit einer Auflage von rund elf Millionen Exemplaren, wobei das Reich damals nur etwa 15 Millionen Einwohner hatte (Köhler 1986: 250 f., 266; Überblick in Mörke 2005: 130—135). Luther selbst war auch jenseits seiner Bibelübersetzung der mit Abstand erfolgreichste Autor der Zeit. Allein 219 Flugschriften werden ihm zugeschrieben, und von seinem kleinen Katechismus wurden bis 1563 rund 100.000 Exemplare gedruckt. Die Reformation animierte auch Laien dazu, mit Druckerzeugnissen Position zu beziehen. Die Medien ermöglichten zudem eine europaweite Auseinandersetzung mit der Reformation - sei es, dass reformatorische Schriften ins Ausland transferiert wurden, sei es, dass dort Gegenschriften entstanden. Selbst die öffentliche Verbrennung von Luthers Schriften, die von London bis Polen reichte, war ein Teil dieses Medienereignisses (hierzu Raymond 2003: 13 f.; Kawecka-Gryczowa in Gilmont 1998: 424). Deshalb wurde Wittenberg, und nicht Mainz, als eigentliche Keimzelle der „Gutenberg-Galaxis“ gesehen (Weyrauch in North 1995: 2).”

Luther

„Luther selbst verfasste keine Flugblätter, obgleich diese vermutlich eine deutlich größere Reichweite gehabt hätten. Stattdessen sprach er mit dem Medium Flugschrift vorwiegend das gebildete Publikum an. Diese Texte vereinfachten dann andere Autoren zielgruppengerecht und verteilten sie teilweise gratis (Heintzel 1998: 215). Ebenso waren Luthers Flugschriften nicht stets so polemisch wie seine berühmte Bauernkriegsschrift "Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern" von 1525, sondern schlugen durchaus auch sachliche Töne an wie in seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen von 1520 (Hamm 1996: 142). Allerdings lebten gerade die visuellen Darstellungen, mit denen seine Texte verbunden wurden, von polemischen und personalisierten Antithesen, die Alltagserfahrungen aufgriffen und die Kritik vor allem gegen den Papst zuspitzten (Scribner 1981: 243-246). Zudem setzte Luther auf eine produktive Verbindung zwischen gedrucktem Text und mündlicher Kommunikation. Seine direkte mündliche Ansprache der Leser und seine übersetzten und neu gedichteten Liedtexte stehen hierfür. Diese „orale Schriftlichkeit“ (Lottes 1996: 256) zeigte sich auch bei Predigten, die Schriften Luthers aufgriffen. Luthers „Schriftprinzip“, den Glauben allein aus der heiligen Schrift herzuleiten („sola scriptura“), korrespondierte mit den neuen Druckmedien. Zugleich beschränkten sich die Überzeugungsversuche der Reformatoren nicht auf Texte, sondern sie setzten auch Bilder ein; sei es von Luther selbst, von frommen Bauern oder von karikierten Gegnern wie beim viel zitierten Passional Christi und Antichristi von 1521 (Scribner 1981: 148—189; Stöber 2000: 44). Generell basierte der Erfolg der Lutheraner auch auf ihren Visualisierungen, die etwa polemische Bilder mit Bibeltexten kombinierten (so bes. Beyer 1994: 184). Luthers bilderfreundliche Haltung förderte sie, während in Frankreich der bilderfeindliche Calvinismus eher auf Lieder setzte (Würgler 2009: 20). Auf diese Weise entstand eine vielfältige „reformatorische Öffentlichkeit“, die intermedial und schichten- und standesübergreifend kommunizierte. Die Folgen, die dies europaweit für die überdurchschnittliche Literarisierung der Protestanten hatte, sind sicher nicht zu unterschätzen. Insbesondere verbreitete sich der Buchdruck so auch in Gebieten Osteuropas, in denen er bisher wenig Fuß gefasst hatte (vergleichend: Gilmont 1998).”

Die Drucker arbeiteten durchaus auch für katholische Herrscher, etwa in Spanien, Portugal, Frankreich und im Reich. Jedoch bremste vor allem das Verbot nationalsprachlicher „Volksausgaben“ für katholische Laien ihr Geschäft (Eisenstein 2005: 192-199), wenngleich die neuere Forschung betont, dass die Haltung der katholischen Kirche gegenüber der volkssprachlichen Übersetzung der heiligen Texte keineswegs einheitlich war (Gilmont 1998: 473). (...)  Selbst in Frankreich, wo sich die Reformation nicht durchsetzte, werden für die Zeit von 1511 bis 1551 rund 1.300 gedruckte religiöse Texte mit einer Gesamtauflage von mindestens einer Million Exemplaren angenommen. 1525 verbot die Pariser theologische Fakultät zwar die Übersetzung der reformatorischen Schriften, dennoch versorgten Drucker aus Antwerpen und Genf das Land. Reformatorische und anti-reformatorische Texte erreichten in den 1540-er Jahren einen Höhepunkt (Higman 1996: 14-22). Die Religionskämpfe in Frankreich, der 80-jährige Krieg der Niederländer gegen Spanien und die Pamphletkultur im ebenso konfessionell aufgeladenen englischen Bürgerkrieg (1642-1649) sind weitere Beispiele dafür, dass religiöse Konflikte die Printkultur dynamisierten und umgekehrt (Raymond 2003:164, 202-275).”